PREDIGT 3. Sonntag im Jahreskreis – LJ C

1 Kor 12,12-31a + Lk 1,1-4; 4,14-21

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Kinder und Jugendliche!

Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21), sagt Jesus. Mit diesem „Heute“ leitet Jesus eine neue Zeit ein. Es ist kein „Heute“ „von gestern“, das uns nichts mehr anginge. Es ist ein „Heute“, das wirken will auch in unseren Tagen: frohe Botschaft – Befreiung – Licht – klarer, ungetrübter Blick – nicht auf einem oder beiden Augen blind, wegschauend oder hinschauend und vertuschend.

Ein Vorwort zu einem Evangelium findet sich nur bei Lukas (vgl. Lk 1,1-4) – ein Vorwort, mit dem er die historische Situation einordnet. Lukas will die Wahrheit ans Licht bringen. Deshalb verlässt er sich auf Augenzeugen und nicht phantasievolle Lügner, die „blind“ erzählen. Lukas schreibt von Beginn an und sorgfältig, denn es geht ihm um Zuverlässigkeit.

Und dann macht das heutige Evangelium einen Zeitsprung: Die Kindheitsgeschichte und Taufe Jesu werden ausgeblendet – davon war an Weihnachten und an den vergangenen Sonntagen die Rede – und es kommt zum erstem öffentlichen Auftritt von Jesus. Geisterfüllt spricht er vom „Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,21), das „Heute“ anbricht: Die Menschen befreit von Unterdrückung, mit offenen Sinnen und mit klarem Verstand; die Menschen voll Würde als Ebenbilder Gottes, achtsam im Umgang mit Mitmenschen und mit der Natur. Jesus nimmt die Menschen in Verantwortung dafür. Heute geschieht das. In euch. Durch euch. Wenn ihr das Eure tut.

Am vergangenen Donnerstag, den 20. Januar 2022, wurde das unabhängige Gutachten zum Umgang mit Missbrauch im Erzbistum München und Freising vorgestellt und veröffentlicht – knapp 1900 Seiten, auf denen Missbrauchsfälle von 1945 bis 2019 und das Verhalten der Verantwortlichen sorgfältig, von Anfang an und unter Einbeziehung vieler Zeugen aufgearbeitet wurden. Einige dieser Seiten habe ich gelesen. Wahrlich keine frohe Botschaft und Lichtblick für die katholische Kirche – aber wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen: Es gab und gibt sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche und es gab und gibt Verantwortliche, die (zu) wenig zur Aufklärung dieser Fälle beigetragen und auch vertuscht haben: „Ein Abgrund an Klerikalismus, Institutionenschutz und Führungsversagen“, so war in einem Artikel zu lesen.

Obwohl es viele gute Priester und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gibt, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, will ich „Missbrauch“ zum Thema dieser Predigt machen, was mir nicht leichtfällt.

Ich will diese Missstände nicht schön oder klein reden – sie sind Realität.

Verantwortliche müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Aus heutiger Sicht war das „jeder hat eine zweite Chance verdient“ zwar christlich und gut gemeint – aber in vielen Fällen das Gegenteil von gut: Damals glaubte man Missbrauchstäter therapieren zu können – heute wissen wir, dass sie oft rückfällig geworden sind und rückfällig werden. Wir wissen heute mehr… und ich muss das Verhalten der damals Verantwortlichen aus heutiger Sicht klar und deutlich als unzureichend und falsch einordnen – aber war es das auch nach dem damals wissenschaftlichen Stand?

Es war dann falsch, wenn Verantwortliche wider besseren Wissens gehandelt und bewusst vertuscht haben, um scheinbar Schaden von der katholischen Kirche abzuwenden – um den Preis durch dieses Fehlverhalten und diese Fehlentscheidung weitere Missbrauchsfälle in Kauf zu nehmen.

Macht und Vertrauen wurden missbraucht; Schwachheit und Schwächen wurden ausgenutzt – ein System des Schweigens, da Missbrauchsopfer oft erst nach Jahrzehnten über das Leid, das ihnen angetan wurde, reden konnten oder wollten. Wir leiden mit ihnen: „Wenn darum ein Glied [der Gemeinde bzw. der Kirche] leidet, leiden alle Glieder mit“ (1 Kor 12,26), bringt es Paulus in der heutigen Lesung auf den Punkt. Als Getaufte sind wir Kirche, Glieder des einen Leibes (vgl. 1 Kor 12,13). Als Teil der Kirche fühle ich mich beschämt und betroffen. Ich leide mit den Missbrauchsopfern angesichts der aufgedeckten menschenverachtenden und menschenwürdeverletzenden Zustände; zudem auch als katholischer Priester, dem das Etikett „potentieller Täter“ aufgedrückt wurde.

Die Institution „Römisch-katholische Kirche in Deutschland“ kann die Missbrauchsfälle nicht ungeschehen machen – sie sind passiert und haben viel physisches und psychisches Leid über die Missbrauchsopfer und deren Familien gebracht. Ich sage es klar und deutlich: Jeder Missbrauchsfall ist einer zu viel – nicht nur in den Reihen der Katholischen Kirche. Es braucht eine neue Achtsamkeit und Strukturen müssen geändert werden, um sexuellen Missbrauch und körperliche Gewalt zu verhindern. Verpflichtende Präventionsschulungen für Haupt- und Ehrenamtliche gibt es schon seit einigen Jahren in allen deutschen Bistümern; Betroffene und Missbrauchte müssen gehört und angemessen entschädigt werden; Macht- und Ohnmachts-Strukturen müssen abgeschafft werden; Aufklärung und Transparenz statt Vertuschung und Verschleierung müssen zur Normalität werden – da ist die Kirche auf dem Weg; einfach ist dieser Weg nicht.

Heute gilt es in der Kirche und als Kirche zu handeln: gegen Missbrauch und für bessere und beteiligungsgerechtere Strukturen. Es geht ums Ganze – oder, um mit Paulus zu sprechen, – um den Leib Christi, die Kirche als Ganzes, mit all ihren (Mit-)Gliedern, Charismen und Begabungen (vgl. 1 Kor 12,14-18). Jeder und jede ist darin wichtig und wertvoll: „Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. [… Alle Glieder sind wichtig, auch die scheinbar noch so geringsten,] damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen“ (1 Kor 12,21-25). Wenn jede und jeder nur an sich denkt und die eigene Macht missbraucht, dann wird und ist der Leib krank und verletzt. Viele wollen mit dieser krankenden Kirche nichts mehr zu tun haben und treten aus der Kirche aus – zurück bleibt ein geschundener, in seinem Handeln stark eingeschränkter Torso. Ob Kirche so „heil“ und „besser“ wird? Nur wenn wir Teil des Leibes Christi bleiben, können wir durch unser Mitwirken, durch das Einbringen der je eigenen Charismen und Geistesgaben zur Heilung des Leibes Christi und zur guten Besserung in der Kirche beitragen: „Wenn […] ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit. […Als Christen sind wir] der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm.“ (1 Kor 12,26-27).   Amen.

Brief von Erzbischof Dr. Ludwig Schick

Mit diesem Schreiben zum Münchner Missbrauchsgutachten und seine Folgen wendet sich Erzbischof Dr. Ludwig Schick an Priester, Diakone und pastorale MitarbeiterInnen - sowie letztlich an alle Gläubigen.